Wissenschaftler der Universit?tsklinika Regensburg und Erlangen geben Zwischenergebnisse der vom Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst (StMWK) im April letzten Jahres in Auftrag gegebenen Studie ?Prospektive COVID-19-Kohorte Tirschenreuth“ (TiKoCo19) bekannt.
Hintergrund
Mit mehr als 1.500 registrierten SARS-CoV-2 Infizierten pro 100.000 Einwohner bis Herbst 2020 war Tirschenreuth (n?rdliche Oberpfalz, Bayern) der am st?rksten von der ersten Coronawelle betroffene Landkreis in ganz Deutschland – deutlich st?rker als der lokalisierte Ausbruch in der Gemeinde Gangelt im Landkreis Heinsberg (Nordrhein-Westfahlen). 百利宫_百利宫娱乐平台¥官网e im Frühjahr 2020 auf der Grundlage der damals praktizierten Teststrategie für den Landkreis Tirschenreuth ermittelten Fallzahlen und die daraus abgeleitete Quote an Todesf?llen (Case Fatality Ratio, CFR) von mehr als elf Prozent führten zu einer beachtlichen medialen Aufmerksamkeit.
Ziele der Studie
Die beteiligten Wissenschaftler:innen um die beiden Studienleiter, Professor Dr. Ralf Wagner (Universit?tsklinikum Regensburg, UKR) und Professor Dr. Klaus ?berla (Universit?tsklinikum Erlangen), haben es sich zum Ziel gesetzt, in einer zuf?lligen populationsbasierten Stichprobe den Anteil der Infizierten in der Bev?lkerung des Landkreises Tirschenreuth durch eine Seropr?valenz-Studie zu ermitteln. Dabei werden bei allen Personen der Stichprobe das Vorhandensein von SARS-CoV-2 Antik?rpern im Blutserum gemessen und daraus die H?ufigkeit von stattgehabten Infektionen (Pr?valenz) bestimmt. Insbesondere sollte auch der m?gliche Einfluss sozio-demographischer Determinanten und Lebensstil-Faktoren eruiert werden.
Neben der Finanzierung durch das StMWK wurde die Studie von einem interdisziplin?ren Studienteam unterstützt, an dem Expert:innen aus den Fachbereichen Virologie, Immunologie, Epidemiologie und Statistik, zahlreiche Studienassistent:innen und Labormitarbeiter:innen sowie ein Team des Bayerischen Roten Kreuzes beteiligt waren. Jetzt liegen finale Ergebnisse dieser Basisuntersuchung aus dem Juli 2020 vor. Die Studie ist aber angelegt, um auch qualitative und quantitative Ver?nderungen in der Antik?rper-Antwort im Zeitverlauf zu untersuchen; eine Folgeuntersuchung fand bereits im November 2020 statt, und eine zweite Folgeuntersuchung ist für Ende April 2021 angesetzt.
Ergebnisse der Basis-Querschnittsuntersuchung
Die Bereitschaft der Bev?lkerung des Landkreises, an der Studie teilzunehmen, war überw?ltigend. Von den ca. 6.600 eingeladenen Bürgerinnen und Bürgern (14 Jahre und ?lter) des Landkreises Tirschenreuth haben sich mehr als 4.200 Freiwillige (64 Prozent) zur Teilnahme bereit erkl?rt. Die Studie umfasst eine Blutabnahme an einem der drei Blutabnahmezentren, die Bestimmung von SARS-CoV-2 spezifischen Antik?rpern über drei unterschiedliche Testsysteme sowie die Auswertung eines umfassenden Fragebogens zu u.a. Alter, Geschlecht, Wohnsituation, Beruf und Lebensstil-Faktoren.
Die Auswertung der Studiendaten und Hochrechnung von der Zufallsstichprobe auf die Bev?lkerung 14 Jahre und ?lter ergab, dass 8,6 Prozent der Tirschenreuther Bev?lkerung (14 Jahre und ?lter) im Juni 2020 Antik?rper gegen das SARS-CoV-2 aufwiesen und daher eine Infektion mit diesem Virus durchlaufen hatten. Der Anteil der Antik?rper-positiven Bev?lkerung war über die unterschiedlichen Altersgruppen hinweg weitgehend vergleichbar. Von den Personen mit registrierter Infektion bis Juni 2020 zeigten 94 Prozent Antik?rper in mindestens einem der Antik?rpertests. Die drei Antik?rpertests zeigten weitgehend vergleichbare Ergebnisse.
Das Verh?ltnis der Antik?rper-positiven Personen, bei denen die SARS-CoV-2 Infektion nicht bereits durch das damalige Testen registriert worden war, zu denen mit durch Antik?rper in dieser Studie nachgewiesener Infektion lag bei 4:1. In anderen Worten: die Dunkelziffer von Faktor 5 bedeutet, dass 80 Prozent aller Infektionen durch die damalige Teststrategie nicht erfasst wurden. Mit einem Faktor 12 war die Dunkelziffer am h?chsten in der Gruppe der 14- bis 20-J?hrigen (92 Prozent unerkannter Infektionen) und nahm mit zunehmendem Alter ab bis zu einem Faktor von 1,7 bei den über 85-J?hrigen (41 Prozent unerkannter Infektionen).
Nimmt man die Anwesenheit von SARS-CoV-2-spezifischen Antik?rpern als bestm?gliche Ann?herung an die Anzahl an SARS-CoV-2Infizierten, dann l?sst sich daraus die sogenannte Infection Fatality Ratio (IFR) errechnen, also der Anteil derjenigen, die nach erfolgter Infektion an/mit COVID-19 verstorben sind. Gemittelt über alle Altersgruppen sind demgem?? zwischen Februar und Juni 2020 im Landkreis Tirschenreuth 2,5 Prozent der mit SARS-CoV-2-Infizierten an oder mit der Infektion verstorben.
Bei einer detaillierten Subgruppen-Analyse zeigte sich dabei eine extreme Altersabh?ngigkeit der an/mit SARS-CoV-2 verstorbenen Personen: W?hrend weniger als 0,5 Prozent der Tirschenreuther unter 60 Jahren und lediglich 1 Prozent der 60 bis 69-J?hrigen an /mit SARSCoV-2 verstarben, stieg die Quote der Verstorbenen nach SARS-CoV-2-Infektion in der Altersgruppe der 70 bis 74- und der 75 bis 79-J?hrigen auf 4 bzw. 10 Prozent an und nahm in den h?heren Altersgruppen weiter zu.
In den meisten populationsbasierten Studien blieben die Alten- und Seniorenheime
unberücksichtigt, und nichtmobile Studienteilnehmer:innen konnten an solchen Studien oft nicht teilnehmen, wenn ein Besuch eines Studienzentrums gefordert war. Ein gro?er Anteil der im Landkreis Tirschenreuth im Zusammenhang mit COVID-19 stehenden Todesf?lle entfiel jedoch auf Bewohner:innen von Senioren- und Pflegeheimen (62 von 138, was 45 Prozent entspricht). In der vorliegenden Studie wurden daher Bewohner von Alten- und Seniorenheimen sowie ?ltere, in ihrer Mobilit?t eingeschr?nkte Teilnehmer:innen in die Zufallsstichprobe einbezogen und, wenn notwendig, von einem mobilen Studienteam in den Senioreneinrichtungen oder zu Hause zur Blutabnahme aufgesucht. Bei der Betrachtung aller ?ber-70-j?hrigen einschlie?lich der Hochbetagten und Bewohner:innen von Alten- und Seniorenheimen ergab sich eine gesch?tzte Infection Fatality Ratio von mehr als 13 Prozent. Das bedeutet, dass etwa 13 von 100 mit SARS-CoV-2 infizierten 70-J?hrigen an der Infektion verstorben sind. 百利宫_百利宫娱乐平台¥官网e Quote reduzierte sich für die Altersgruppe 70 auf 7,4 Prozent, wenn die Bewohner:innen aus Alten- und Seniorenheimen aus der Auswertung ausgeschlossen wurden.
Bezogen auf die Gesamtbev?lkerung von Tirschenreuth reduzierte sich die Infection Fatality Ratio bei Ausschluss der über 70-J?hrigen aus Alters- und Seniorenheimen von 2,5 Prozent auf 1,4 Prozent. Das bedeutet, dass von 100 infizierten Personen über 70 Jahre, die zu Hause wohnten, ca. sieben Personen im Zusammenhang der Infektion verstorben sind; unter allen Personen über 14 Jahren, die zu Hause wohnten, ist von 100 Personen ca. eine Person gestorben. 百利宫_百利宫娱乐平台¥官网 altersbezogenen Infection Fatality Ratios passen sehr gut mit statistischen Modellen von Levin und Kollegen (European Journal of Epidemiology, 2020) zusammen.
Untersuchungen zum Einfluss des beruflichen Umfeldes auf eine SARS-CoV-2-Infektion zeigten auch, dass medizinisches Personal im Landkreis Tirschenreuth ein etwa zweifach h?heres Risiko hatte, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren, als andere Berufsgruppen. Personen, die im Supermarkt arbeiteten, zeigten keine erh?hte Infektionsh?ufigkeit. Die Studiendaten deuten auch darauf hin, dass Raucher:innen gegenüber Ex-Raucher:innen oder Nichtraucher:innen ein etwa dreifach geringeres Risiko aufweisen, Antik?rper gegen SARS-CoV-2 entwickelt zu haben. Das bedeutet jedoch nicht, dass Rauchen per se vor einer SARS-CoV-2-Infektion schützt und darf keinesfalls über die bekannten Gesundheitsrisiken des Rauchens, z.B. für Lungenkrebs und Herzinfarkt, hinwegt?uschen. Als Erkl?rung für diese Beobachtung kommen verhaltensbedingte Ursachen ebenso in Frage wie immunologische oder zellbiologische Mechanismen, was Gegenstand weiterer Erforschung sein muss.
Schlussfolgerungen Runde 1
Die Daten aus der Tirschenreuth-Studie zeigen einen hohen Anteil von damals nicht erkannten Infektionen (Dunkelziffer) insbesondere unter jüngeren Personen sowie den Einfluss des Alters und der Betreuungssituation (Senioren- und Pflegeheime) auf die Quote SARS-CoV-2-assoziierter Todesf?lle. Die aktuelle Teststrategie kann sich wohl von der damaligen Teststrategie und damit den erkannten Infektionen unterscheiden. Verbesserte Behandlungsstrategien für aktuell schwer erkrankte COVID-19-Patienten werden auch den Anteil der Versterbenden reduzieren. Nichtsdestotrotz stützen die Ergebnisse die verbesserte Teststrategie bei Jugendlichen sowie die von der st?ndigen Impfkommission (STIKO) empfohlene priorisierte Impfung der Bewohner:innen von Alters- und Seniorenheimen, der ?lteren Bev?lkerungsgruppen 70 sowie des in Pflege- und Heilberufen engagierten Personals.
Aktueller Stand und Ausblick
In der zweiten Novemberh?lfte des vergangenen Jahres wurden 4.174 Personen, die bereits an der Basis-Querschnittsuntersuchung teilgenommen haben, erneut angeschrieben und um eine weitere Blutprobe sowie das Ausfüllen eines Fragebogens gebeten. 3.549 Personen der kontaktierten Tirschenreuther Bürger:innen haben an der zweiten Runde der Studie teilgenommen und rund um Weihnachten ein entsprechendes Testergebnis per Post erhalten. Das entspricht einer Teilnahmequote von hervorragenden 85 Prozent, die alle Erwartungen der beiden Studienleiter übertroffen haben. Eine erste Zwischenauswertung ergab nur eine geringe Anzahl an Neuinfektionen zwischen Juni und November 2020. Bei dem überwiegenden Anteil der im Juni seropositiv getesteten Probanden wurden nach wie vor SARS-CoV-2-spezifische Antik?rper gefunden. Als n?chstes soll jetzt die weitere Ausbreitung des Virus in der Tirschenreuther Bev?lkerung zwischen November 2020 und April 2021 aufgezeichnet werden. In diesem Zusammenhang sollen auch weitere Aussagen über die Nachhaltigkeit der durch Infektion hervorgerufenen Immunantwort getroffen werden.
?Wir sind begeistert von der Mitarbeit der Tirschenreuther Bev?lkerung. Ohne deren Beteiligung w?re diese Studie nicht m?glich. Auf Grundlage der gewonnenen Ergebnisse und des für die letzten beiden Aprilwochen geplanten dritten Studienabschnittes lassen sich weitreichende Aussagen (i) zur Anzahl neuer Infektionen beispielsweise w?hrend der zweiten Welle, die auch Tirschenreuth wieder hart getroffen hat, (ii) zur Langlebigkeit einer nach SARS-CoV-2-Infektion induzierten Antik?rperantwort, (iii) zur H?ufigkeit von Zweitinfektionen nach einer ausgeheilten Erstinfektion oder (iv) zum Einfluss der Impfung ableiten“, so Prof. Dr. Wagner und Prof. Dr. ?berla. ?Damit wir das Bild aber entsprechend abrunden k?nnen, ist es besonders wichtig, dass alle in diesen Tagen erneut angeschriebenen Bürgerinnen und Bürger des Landkreises, die sich schon im Juni oder November des vergangenen Jahres an der Studie beteiligt haben, den zugesendeten Fragebogen ausfüllen und sich in den beiden letzten Aprilwochen an den in der Einladung genannten Tagen in einem der angegebenen drei Zentren zu einer weiteren Blutabnahme einfinden.“
Wissenschaftsminister Bernd Sibler betonte: ?Studien wie TiKoCo19 leisten einen wichtigen Beitrag, um die Wirksamkeit ergriffener Ma?nahmen zu überprüfen und der Pandemie begegnen zu k?nnen. Für ihren gro?en Einsatz und ihre Arbeit auf Spitzenniveau bin ich unseren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an unseren Universit?ten und Universit?tsklinika daher sehr dankbar. Ebenso freue ich mich sehr über die gro?e Beteiligung der Tirschenreuther Bev?lkerung.“
Landrat Roland Grillmeier dazu: ?Nach über einem Jahr Pandemie und den verschiedenen Wellen und Situationen im Landkreis, auch durch die Grenzlage, bin ich immer noch froh und dankbar, dass es durch unterschiedliche Bemühungen in der ersten Zeit der Pandemie gelungen ist, den Landkreis Tirschenreuth in diese Studie aufzunehmen. Viel Austausch und Information war hier m?glich, sowohl für die Beh?rden, als auch für die vielen Menschen, die sich an der Studie beteiligt haben. Zum einen konnten wir auch für uns Aufschluss erhalten, wie sich die Phasen der Pandemie und nun auch diese ?Dritte Welle‘ in der Region auswirkt, zum anderen k?nnen wir auch aufzeigen, wie sich nun das verst?rkte Impfen in den Grenz-Landkreisen entwickelt und welchen Einfluss dies auf die Entwicklung der Antik?rper hat. Deswegen wiederum mein Appell, nehmen Sie auch an diesem dritten Durchlauf so engagiert teil, wie dies bisher der Fall war, Sie leisten damit einen Beitrag die Pandemie ein Stück besser nachvollziehen und damit auch bek?mpfen zu k?nnen. Ich bin stolz darauf, dass wir hier im Landkreis einen wichtigen Beitrag dazu leisten k?nnen und bedanke mich bei allen, die dies erm?glicht haben, auch durch ihr Engagement.“
Teile der im Rahmen der Studie erhobenen Daten sind unter https://medrxiv.org/cgi/content/short/2021.03.29.21254343v1 (externer Link, ?ffnet neues Fenster) einsehbar.