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Aktuelles: ?Der Tatort ist das letzte Fernsehereignis im fiktionalen Bereich.“

Ein Interview mit Dr. Hendrik Buhl zum 50. Geburtstag der Krimireihe

09. November 2020, von Kommunikation & Marketing

Zwei Augen, zwei Beine und Klaus Doldingers Musik: Damit wird seit fünf Jahrzehnten eine der bekanntesten deutschen Fernsehreihen eingeleitet. 2020 feiert der Tatort seinen 50. Geburtstag, denn am 29. November 1970 wurde die erste Folge ?Taxi nach Leipzig“ ausgestrahlt. In bislang über 1100 Folgen untersuchen wiederkehrende Ermittlungsteams kapitale Verbrechen und l?sen jeden Sonntag um 20:15 Uhr im Ersten Kriminalf?lle in Deutschland, ?sterreich und der Schweiz. Damit ist die Sendung die langlebigste Krimireihe im deutschen Fernsehen und mit bis zu zehn Millionen Zuschauern pro Neuausstrahlung wohl auch die beliebteste. Dr. Hendrik Buhl am Lehrstuhl für Medienwissenschaft besch?ftigt sich mit dem Ph?nomen ?Tatort“ aus medien- und kulturwissenschaftlicher Perspektive und hat zum Thema ?Tatort: Gesellschaftspolitische Themen in der Krimireihe“ promoviert.

Wie sind Sie zum Tatort-Schauen und sp?ter zur -Forschung gekommen?

Dr. Hendrik Buhl: Ich bin – wie so viele – über generationelle Verbindungen zum Tatort gekommen: über meine Eltern und Gro?eltern.

Zur Forschung an der Tatort-Reihe kam ich dann über meine Magisterarbeit zur Tatort-Rezeption. Ich habe eine medienethnographische Untersuchung durchgeführt und Paare befragt, unter welchen Bedingungen sie Tatort schauen. Dabei kam heraus, dass viele die Reihe wegen der gesellschaftspolitischen Themen anschauen. Dazu gab es noch keine Studie, was ich zum Anlass genommen habe, mich weiter damit zu besch?ftigen.

Seit 50 Jahren gibt es die Reihe Tatort und ist für viele zu einem w?chentlichen Fixpunkt geworden. Wie funktioniert eine klassische Tatort-Folge und was h?lt die Leute bis heute an den Bildschirmen?

In erster Linie ist der Tatort ein Krimi; ein Genreprodukt, dass nach dem Schema Mord-Detektion-Aufkl?rung funktioniert. 百利宫_百利宫娱乐平台¥官网e einfache Formel ist gut anpassbar, da es die verschiedensten Verbrechen gibt, vom Wirtschaftsverbrechen bis zum kapitalsten aller Verbrechen: Mord.

Eine zentrale Rolle spielt auch das Lokalkolorit der Reihe, das zum einen der f?deralen Struktur der ARD geschuldet ist, zum anderen letztendlich auch der Struktur Deutschlands selbst. Wichtig ist, dass die Orte, die gezeigt werden, im Rahmen des audiovisuell M?glichen repr?sentiert werden, jedoch nicht gespiegelt.

Au?erdem ist die Reihe zeitgebunden und spielt immer in der Gegenwart. So bekommt der Tatort einen seismografischen Charakter: wie war die Mode? Welche Hosen wurden getragen? Welche Automobile wurden gefahren? Und, für mich als Medienwissenschaftler besonders interessant: Welche Medientechnologien wurden genutzt? W?hrend in den 1970ern die Kommissare (und damals waren es tats?chlich fast ausschlie?lich m?nnliche Ermittler) noch zur Telefonzelle gehen mussten, wird heute wie selbstverst?ndlich mit den Assistent:innen per Whatsapp kommuniziert.

Der Tatort ist ein Mainstream-Produkt, das Werte und Normen weiterverbreitet und st?ndig am Konsens arbeitet. So ist der Kommissar des Berliner Ermittlungsteams bisexuell. Vor Jahrzehnten undenkbar, heute normal. Rechtsradikalismus wird immer wieder von den Kommissarinnen und Kommissaren moralisch negativ evaluiert. Oder das Thema des Kindesmissbrauchs wird in regelm??igen Abst?nden thematisiert und dabei immer wieder verdeutlicht, dass dieses Verhalten verurteilt werden muss.

Die Tatort-Reihe steht auch für st?ndigen Wandel durch Selbsterneuerung. Personeller Wechsel, weil Schauspieler:innen sich neuen Aufgaben widmen, geh?rt seit Jahrzehnten dazu. Das sorgt für frischen Wind. Auf der anderen Seite ist auch Konstanz ein wichtiger Bestandteil. Die Kommissare Batic und Leitmayr aus München oder die K?lner Ermittler Ballauf und Schenk sind seit Anfang der 1990er zu vertrauten Mediengesichtern geworden, mit denen die Zuschauer:innen gemeinsam ?lter werden.

Wie setzt sich, Ihrer Einsch?tzung nach, das Publikum eines Tatorts zusammen?

Das Publikum setzt sich sehr heterogen zusammen, wobei eine Gefahr der ?beralterung herrscht. Der Medienwandel weg vom linearen Fernsehen hin zum Streaming führt dazu, dass jüngere Zuschauer:innen ihr Sehverhalten ver?ndern. Daher muss sich die ARD neue Strategien überlegen.

Was glauben Sie, wie sich der Tatort weiterentwickelt bzw. was würden Sie gerne in der Zukunft der Reihe sehen?

Zu den ?berlegungen geh?rt sicherlich, ob man auf ?online first“ setzt. Ich k?nnte mir eine horizontal erz?hlte Miniserie vorstellen, in der z. B.in zehn Episoden eine zusammenh?ngende Geschichte erz?hlt wird nach dem Vorbild von True Detective. ?hnliches wurde auch schon versucht. Als Negativ-Beispiel, wo es meiner Meinung nach nicht funktioniert hat, k?nnte ich hier den Dortmunder Tatort nennen. ?ber mehrere Folgen wurde der Tod der Frau und des Kindes von Kommissar Faber durch einen Killer behandelt. Durch die langen Ausstrahlungszyklen ist es für Zuschauer:innen, die vielleicht auch einmal eine Folge verpassen, allerdings schwer zu folgen. Daher müssen die Entwicklungen hin zu einer horizontalen Erz?hlweise und die Online-Sehgewohnheiten be- und mitgedacht werden.

Neben den bereits bestehenden Experimental-Tatorten, w?re es für mich auch denkbar, wenn man von der Aktualit?t absieht und Folgen in der Zukunft ansiedelt und mit SciFi-Elementen versetzt.

Der Tatort zeigt jede Woche ein Ermittlerteam bei der L?sung eines Kriminalfalls. Trotz dieses Schemas, wie hat sich die Krimireihe über die letzten 50 Jahre ver?ndert?

Auff?llig ist das explizite Zeigen von Toten. In den 1970er Jahren lagen Schauspieler:innen, die Leichen verk?rperten, einfach da. Das hat sich inzwischen zu einer drastischeren Darstellung entwickelt mit aufwendiger Maske und Effekten. Damit geht auch die Aufwertung der Gerichtsmedizin in der Reihe einher.

Die Erz?hlweise ist auch schneller geworden. In früheren Folgen gab es oft lange Gespr?che, die Kommissare und Kommissarinnen sind gem?chlich aus dem Auto gestiegen, haben sich in Ruhe und viel unterhalten. Die Erz?hlweise in neueren F?llen ist temporeicher. Auch die Orientierung hin zu mehr Action hat sp?testens mit den Til Schweiger-Tatorten angezogen.

?ber die Jahrzehnte hat auch eine Feminisierung stattgefunden. Bis 1978 waren weibliche Ermittlerinnen noch Einzelf?lle, die oft Genderstereotypen entsprochen haben, z. B. die Ermittlerin, die beim Bügeln einen Fall l?st. Heute dagegen sind Kommissarinnen Standard. Lena Odenthal ist bereits seit 1989 Tatort-Kommissarin und damit die dienst?lteste Ermittlerin.

Auch der Bezug auf gesellschaftspolitische Themen ist eine neuere Entwicklung. Der Tatort der 1970er Jahre war noch weitestgehend themenlos. Erst mit Schimanski in den 1980er Jahren wurden vermehrt gesellschaftspolitische Themen aufgegriffen, in den 1990er Jahren wurde es dann forciert und geh?rt heute selbstverst?ndlich dazu. So gibt es bestimmte Themenkonjunkturen, wie beispielsweise die Komplexe Migration oder Alkoholismus.

Zudem hat sich die Ausstrahlungsfrequenz erheblich ver?ndert. Momentan sind wir bei ungef?hr 35 neuen F?llen pro Jahr.

Inwiefern nimmt die Reihe den Zeitgeist auf und behandelt gesellschaftspolitische Probleme? Wie realit?tsnah ist die Sendung?

Die Tatort-Reihe bezieht gesellschaftspolitische Entwicklungen mit ein. Sie reagiert jedoch fast immer zeitverz?gert, bedingt durch den langen Produktionsprozess. Dabei pr?sentiert der Tatort die Themen komplexit?tsreduziert – nicht zuletzt aufgrund der 90-minütigen Form. So werden Probleme oft durch Thementr?gerschaften vermittelt. Mittels einer Person wird auf bestimmte Problematiken aufmerksam gemacht. Wenn beispielsweise eine Gentechnikerin zu einem Fall verh?rt wird, so wird in der Befragung in zwei bis drei S?tzen das Thema Gentechnik angeschnitten. Dabei soll jedoch nicht mit erhobenem Zeigefinger das Publikum belehrt werden, in erster Linie bleibt der Tatort Entertainment. So werden thematisch ernste Situationen h?ufig entsch?rft, z. B. indem der Kommissar mit der Zeugin zu flirten beginnt.
Nicht jeder Fall der Krimireihe ist ein Themen-Tatort. Teilweise werden gesellschaftspolitische Themen auch nur beil?ufig eingeflochten. In den Münchener Folgen ?Tatort: A gmahde Wiesn“ oder ?Tatort: Die letzte Wiesn“ werden beispielsweise die Arbeitsbedingen der Oktoberfest-Bedienungen am Rande des eigentlichen Kriminalfalls behandelt.

In Zeiten in denen sich der Medienkonsum durch Streaming-Dienste, Video-on-Demand und Mediatheken ver?ndert hat und Sendungen immer und überall konsumiert werden k?nnen, bleibt der neue Tatort am Sonntagabend um 20:15 Uhr, für viele Pflicht. Wie kommt es zu diesem Ph?nomen?

Für viele stellt der Tatort am Sonntag das Ende des Wochenendes dar. Der Tatort ist das letzte Fernsehereignis im fiktionalen Bereich. So gibt es in Kneipen Public Viewings zum Tatort. Für welche andere Sendung – au?er Gro?sportereignisse – gibt es das schon? Für mich steht dieses Ritual allerdings langfristig in Frage. Mit der medialen Entwicklung hin zum Streaming weicht das Sonntagabend-Ph?nomen auf.

Und noch eine letzte Frage: Haben Sie einen Lieblings-Tatort oder ein Lieblings-Team?

Da will ich mich nicht festlegen. Ich schaue allerdings gerne das Berliner Team mit Rubin und Karow, die Tukur-Tatorte, aber auch die ?klassischen“ Tatorte mit Batic und Leitmayr gefallen mir. Besonders beeindruckt hat mich ?Borowski und der stille Gast“ mit Lars Eidinger als T?ter, der sich bei seinen Opfern, ohne ihr Wissen, in ihren Wohnungen einnistet, bevor er sie t?tet – übrigens ein Tatort ganz ohne gesellschaftspolitischen Hintergrund.

Vielen Dank für das Interview, Herr Dr. Buhl.

 

Weiterführende Links:

Dr. Hendrik Buhl hat zur Krimireihe Tatort promoviert.
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