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Aktuelles: Wissenschaft als Prozess begreifen

Biologe Prof. Dr. Jürgen Heinze ber?t die Bundesregierung zu wissenschaftspolitischen Themen

05. Februar 2021, von Kommunikation & Marketing

Der Wissenschaftsrat hat die Aufgabe, die Bundesregierung und die Regierungen der Bundesl?nder in Fragen der inhaltlichen und strukturellen Entwicklung der Wissenschaft und Forschung zu beraten. Dazu geh?ren unter anderem Evaluationen von Forschungseinrichtungen, Stellungnahmen zur Hochschulbildung sowie zu Organisation und F?rderung der Forschung an Hochschulen und au?eruniversit?ren Einrichtungen. Professor Dr. Jürgen Heinze, Lehrstuhlinhaber für Zoologie / Evolutionsbiologie an der Universit?t Regensburg, ist seit 2018 Mitglied der wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrates. Unl?ngst hat ihn Bundespr?sident Frank-Walter Steinmeier für drei weitere Jahre in dieses Amt berufen.

Herr Professor Heinze, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Weiterberufung in das wichtigste Beratungsgremium der Bundesregierung zu Fragen der Forschung! Als Biologe forschen Sie unter anderem zu Konflikten und Konfliktl?sung im Insektenstaat. Was kann die Politik denn von Ameisen lernen?

Prof. Dr. Jürgen Heinze: Was man an Ameisen und anderen sozialen Insekten sehen kann ist, dass es überall, auch in noch so harmonisch wirkenden Superorganismen, Konflikte geben kann, und dass diese Konflikte gel?st werden müssen, da sonst das System auseinanderbricht. Es gibt unterschiedliche Konfliktl?sungsmechanismen – so auch bei Ameisen: Dominanzhierarchien, Bestrafung oder etwa gegenseitige ?berwachung. Doch davon auf den Wissenschaftsrat zu schlie?en, würde zu kurz greifen. Der Wissenschaftsrat hat andere M?glichkeiten der Konfliktl?sung gefunden. Wir sind ein sehr harmonisches Gremium. Das liegt daran, dass wir uns gemeinsam sehr intensiv mit unseren Papieren auseinandersetzen und bei unterschiedlichen Meinungen lange beraten. Oft h?ngt es an einzelnen Formulierungen, die ausdiskutiert werden müssen, damit man ein Papier verabschieden kann. Ein Papier wird erst von der Wissenschaftskommission besprochen, bevor es der Verwaltungskommissionen vorgelegt werden kann, in denen die Ministerinnen und Minister der L?nder sitzen. Es macht einen gro?en Unterschied, ob der Wissenschaftsrat etwas zwingend fordert, was am Ende Bund und L?nder viel Geld kostet, oder ob er anr?t, etwas zu finanzieren. Oft werden daher auch ?Kleinigkeiten“ noch einmal in gemeinsamen Treffen diskutiert und neu ausformuliert. Dennoch haben wir Beschlüsse bislang meist einstimmig f?llen k?nnen. Das zeigt auch etwas zur Arbeitsweise des Wissenschaftsrates – er ist als Ganzes für den Inhalt der Papiere verantwortlich und letztlich müssen alle dahinterstehen.


Wie lange dauerte es denn, das letzte Woche ver?ffentlichte Positionspapier zur COVID-19-Krise und deren Impulse für die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems in Deutschland zu verabschieden?

Das ging vergleichsweise schnell. Der Forschungsausschuss des Wissenschaftsrats hat hier sehr schnell eine Arbeitsgruppe eingesetzt, und seit Beginn der Pandemie hat sie an dem Thema gearbeitet. Es gab viele Videokonferenzen, auch mit Expertinnen und Experten von au?en. Normalerweise dauert so etwas l?nger. Aber hier herrschte hoher Zeitdruck.


In diesem Positionspapier ist die Rede von der Krise als Beschleuniger von Transformationsprozessen und von den hohen Erwartungen in dieser Krise an die Wissenschaft. Welche besondere Verantwortung haben Wissenschaftler:innen in diesen Zeiten hoher Erwartung?

百利宫_百利宫娱乐平台¥官网e Ver?nderung durch Corona trifft die Wissenschaftskommunikation in allen Aspekten: Wie man intern beziehungsweise innerhalb der Wissenschaft kommuniziert, wie man allgemein miteinander kommuniziert, wie man lehrt – virtuell, in der Distanz, aus der Ferne. Bei all diesen Themen haben sich Schwachstellen gezeigt: Wir hatten alle zu k?mpfen, wie wir unsere Vorlesungen ins Netz stellen und wie wir Praktika anbieten. Ein Beispiel: Zytologie und Anatomie der Tiere. Wie kann man vermitteln, wie man einen Regenwurm seziert, wenn man es nicht praktisch macht? Es musste digital sehr schnell sehr viel aufgebaut werden.


Sie sprachen die Wissenschaftskommunikation an…

Wir haben generell das Problem, dass in der Bev?lkerung oft erwartet wird, dass die Wissenschaft immer exakte Kenntnisse hat. Dass Wissenschaft ein Prozess ist, dass wir nur langsam lernen, wenn ein neues Problem auftaucht, das wird h?ufig nicht verstanden. Wenn ich in der Vorlesung sage ?Das wissen wir noch nicht“, dann sind auch Studierende h?ufig sehr unzufrieden mit uns. Das Problem ergab sich besonders bezüglich Corona…  Es wurden anfangs Meinungen ge?u?ert, die noch nicht ganz abgesichert waren, und doch klammerten sich viele an diesen vorl?ufigen Aussagen fest. Wenn ein halbes Jahr sp?ter jemand anderer etwas anderes sagt, dann schwindet das Vertrauen. Wir müssen verstehen, dass Wissenschaft ein Prozess ist. Das zu vermitteln, damit müssten wir schon ganz früh anfangen, am besten im Kindergarten und in der Grundschule. Wir müssen begreifen, dass Wissenschaft kein Kanon unumst??licher Fakten ist, sondern dass Wissenschaft lebt. Gerade im Zuge der Corona-Pandemie preschten manche mit Aussagen vor, die dann in Teilen der Bev?lkerung als unumst??liche Wahrheit wahrgenommen wurden, etwa ?Corona ist wie eine leichte Grippe“. Erst langsam hat sich gezeigt, wie voreilig das war.


Anliegen des Positionspapiers ist es, die im Zuge der Krise gewonnenen Erfahrungen und die derzeit zu beobachtende Ver?nderungsbereitschaft für die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems zu nutzen. Ein gro?es Potenzial liege in der kreativen Gestaltung und Nutzung des digitalen Raums. Welches Potenzial entdecken wir als Gesellschaft und als Universit?t im Moment?

Es wird schon lange versucht, Lehre st?rker zu digitalisieren und neue Lehrformate in den Universit?ten einzubinden. Durch die Corona-Pandemie ist das jetzt forciert worden. Wir haben das bisher h?ufig noch nicht so weit vorangetrieben, dass es tats?chlich über das Aufnehmen und Ins-Netz-Stellen von Videos hinausgeht. Aber man kann natürlich ?umgekehrte Klassenzimmer“, flipped classrooms, einsetzen, wo zuhause und am Computer Grundlagen erlernt werden, die dann im Pr?senzunterricht überprüft und angewandt werden. Ich habe hier noch wenig Erfahrung, aber ich bin jetzt Mitglied in einer neu eingerichteten Arbeitsgruppe im Wissenschaftsrat, in der es genau um diese Digitalisierung der Lehre und des Studiums geht. Wir haben Expertinnen und Experten in den virtuellen Raum eingeladen, um Vorschl?ge zu erhalten, wie sich hochkar?tige digitale Lehre in Pr?senzveranstaltungen einbinden l?sst. Was die Pr?senzlehre natürlich nicht verdr?ngen, sondern erg?nzen soll.


Das Positionspapier zeigt in der aktuellen Situation Handlungsbedarf an, unter anderem hinsichtlich multi- und interdisziplin?rer Vernetzung der Disziplinen – Gesundheitsforschung ben?tigt heute nicht nur die Medizin, sondern Mathematik, IT, Physik, ethische, rechtliche, logistische Expertise. Warum hat uns das bisher so wenig gekümmert? Warum ist der Nachholbedarf hier so gro?? Man müsste meinen, das sei nichts Neues…

Es ist schon lange klar, dass inter – oder transdisziplin?re Forschung verst?rkt werden sollte. Universit?ten sind aber meist disziplin?r organisiert und so werden auch Stellen ausgeschrieben. Auch die Forschungsf?rderung ist zuvorderst disziplin?r aufgestellt, auch wenn inter- oder transdisziplin?re Forschung gerade in den gro?en Formaten eine wichtige Rolle spielt. Dennoch sagen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ?ich bleib lieber als Schuster bei meinen Leisten und dehne meine Forschung nicht in Gebiete aus, wo ich mit anderen Leuten zusammenarbeiten muss, die vielleicht eine ganz andere Zugangsweise zur Wissenschaft haben“.

Was ich konkret sehe und wichtig finde – und das ist das Sch?ne am Wissenschaftsrat – ist die M?glichkeit, mit Menschen aus anderen Disziplinen einfach so ?brainstormen“ zu k?nnen, sich unterhalten zu k?nnen, egal ob das nun Historiker, Physikerinnen, Anglisten sind. Pl?tzlich stellt man dann fest – wir haben zwischen Ameisen und dem 30-j?hrigen Krieg ?hnlichkeiten, was Konflikte betrifft. 百利宫_百利宫娱乐平台¥官网e Zeit, die man zum Brainstorming mit andern haben sollte, die fehlt uns an den meisten Universit?ten. Ich bin froh, wenn ich meine Lehr-, Forschungs-, administrativen Aufgaben erledigen kann. Die Zeit, zu schauen, sich mit anderen an der Universit?t zu treffen, sich ?planlos und ziellos“ zu unterhalten, die fehlt uns allen meistens.


Müssen wir uns daran gew?hnen, dass die Komplexit?t von Systemen es erfordert, viele Menschen aus unterschiedlichsten Disziplinen ?fter zu einem solchen Brainstorming zusammenzuholen? Müssen wir das an den Universit?ten adaptieren?

Nicht in einem Top-Down-Prozess. 百利宫_百利宫娱乐平台¥官网e funktionieren an Universit?ten nicht sehr gut. Eine solche Initiative müsste bottom up kommen. Dafür br?uchte man gro?e R?ume, in denen man sich regelm??ig treffen kann. Raum nicht nur real r?umlich verstanden, sondern auch zeitlich gesehen. Ich habe als Mitglied verschiedener DFG-Gremien und jetzt aktuell im Wissenschaftsrat immer sehr genossen, mich etwa beim Abendessen mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Disziplinen über deren Forschung austauschen zu k?nnen. Das kommt natürlich w?hrend der Pandemie zu kurz. Das pers?nliche Miteinander, das wissenschaftliche Plaudern, f?llt jetzt flach, was ich sehr schade finde. So etwas br?uchten wir auch st?rker an den Universit?ten. Es gibt Formate des Studium generale, aber nehme ich mir die Zeit au?erhalb meiner Disziplin in andere Kolloquien zu gehen? Das w?re zwar spannend, aber aufgrund des normalen Berufsalltags fehlt da sehr oft die Zeit.


Im Wissenschaftsrat leiten Sie den Ausschuss für Forschungsbauten, zudem leiten Sie gemeinsam mit einer Berliner Kollegin eine neue Arbeitsgruppe für Forschungsfinanzierung an deutschen  Hochschulen. Was besch?ftigt Sie hier?

Wir sind aktuell dabei, die Gruppe zu etablieren und unsere Fragestellung zu sch?rfen. Es geht unter anderem um Geldflüsse und wie diese Geldflüsse letztlich Forschung beeinflussen k?nnen. Ein Punkt, der mir sofort auffiel, ist, dass durch hohe Gewichtung des Drittmittelaufkommen Forschungsantr?ge teurer werden. Ein extremes Beispiel: Früher reichten manchen Zoologen und Zoologinnen Reisemittel, etwas Alkohol und Insektennadeln. Heute werden unter dem Druck, mehr Drittmittel einzuwerben, Forschungsgebiete ver?ndert. Dann kommt zur Artbeschreibung vielleicht noch die Sequenzierung des Genoms dazu. Noch ist nicht ganz klar, wie diese Arbeitsgruppe letztlich arbeiten wird. Es geht letztendlich auch um verwaltungstechnische Dinge, daher werden wir auch Vertreterinnen und Vertreter aus der Verwaltung und der Politik dabeihaben.


Mir sagte unl?ngst ein Wissenschaftler, man forsche tats?chlich nur daran, wofür es Geld gebe…

Das kann vielleicht bei einigen so stimmen. Und sie forschen nicht nur dort, wo es Geld gibt, sondern wo es viel Geld gibt. Denn Vereinbarungen zwischen Professuren und Universit?ten oder auch mit Ministerien halten h?ufig fest, dass bestimmte Drittmittelmengen einzuwerben sind. Das f?rdert teure Forschung. Ich habe dazu noch keine Daten, aber das ist meine pers?nliche Erfahrung. Das ist dann tats?chlich ein Grund, der Forschung in eine bestimmte Richtung bewegt.


Sie beraten die Politik in Fragen der Forschung. Was raten Sie unserer Universit?t im Hinblick auf die Umsetzung ihres Hochschulentwicklungsplans 2025?

Bestehende St?rken weiter zu st?rken. Zum Beispiel auf den Bereichen aufzubauen, die bereits jetzt durch Sonderforschungsbereiche oder Graduiertenkollegs forschungsstark sind. Es ist sicherlich nicht machbar, mit einem v?llig neuen Schwerpunkt in der Exzellenzstrategie zu punkten. Ein weiterer Punkt, gerade für kleinere Universit?ten wie die unsere, ist, zu schauen, ob wir uns mit anderen Universit?ten zusammentun k?nnen. Alleine haben wir oft nicht die Masse an herausragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die ein Konsortium von 25 Personen stellen k?nnen. Ich empfehle, mit anderen gemeinsam einzureichen. Das ist ein wichtiges Moment, das aber lange geplant werden muss. In sechs Jahren ist die n?chste Runde, dafür müssen wir jetzt die Weichen stellen. Es darf bei Gutachterinnen und Gutachtern nicht der Eindruck entstehen, man suche schnell einmal ?Beutegemeinschaften“ um Geld einzuwerben.


Zum Schluss: Was freut Sie pers?nlich an den Sitzungen des Wissenschaftsrates?

Einblick in Bereiche, mit denen ich mich vorher nicht besch?ftigt habe. Die Treffen mit den Kolleginnen und Kollegen. Highlights sind Empf?nge, etwa im Bundeskanzleramt oder beim Bundespr?sidenten. Oder die Treffen an anderen Unis in verschiedenen Bundesl?ndern – man blickt hinter Kulissen. Ich hatte auch das Vergnügen, zwei Forschungsmuseen zu begutachten und in diesem Prozess die Sammlungen au?erhalb der ?ffentlich zug?nglichen Ausstellungsr?ume zu sehen. Es ist beeindruckend, was da aufbewahrt wird und woran geforscht wird. Das ist sch?n. Weniger sch?n ist es, wenn man wie im Moment drei Tage vor dem Bildschirm sitzt und Menschen nur auf kleinen Kacheln sieht und dauernd Verbindungsprobleme hat. Dann kommt auch unser Nachholbedarf in der Digitalisierung überdeutlich hervor. So gesehen fürchte ich mich im Moment auch gerade vor den gro?en Online-Prüfungen, die auf uns zukommen k?nnten...


Herzlichen Dank für das Gespr?ch, Herr Professor Heinze, und alles Gute für die kommenden drei Jahre im Wissenschaftsrat!


Weitere Informationen

Foto: Svea Pietschmann/Wissenschaftsrat
Professor Dr. Jürgen Heinze (6.v.l.) bei einer Sitzung des Wissenschaftsrates im Januar 2020.

Kontakt aufnehmen

Prof. Dr. Jürgen Heinze

Lehrstuhl für Zoologie/Evolutionsbiologie
Universit?t Regensburg
Telefon 49 941 943 2475
E-Mail: juergen.heinze@ur.de

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